Fast 10 Jahre nach Pleite - Das Jolly Joker in Braunschweig - Ein Rückblick

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Wenn ich in den 1980er-Jahren jemanden gefragt habe, was er von der Großraumdisco „Jolly Joker“ an der Broizemer Straße in Braunschweig hält, kamen immer die gleichen Antworten: Versifft, verkeimt, asozial. Gäste kommen sauber rein und dreckig wieder raus. Trotzdem besuchten zig Tausende diese Diskothek Wochenende für Wochenende. Teilweise war es so voll, dass sich durch alle Gänge Menschenmassen nur schieben konnten. Es waren dann aber auch eben diese Personen in dem Laden anzutreffen, die sich stets negativ äußerten. Es erinnerte mich immer ein wenig an die Bands „Modern Talking“ oder „Scooter“. Niemand will sie je gehört oder gemocht haben, trotzdem finden sich Aufnahmen der Band in fast jeder Plattensammlung der Leute, die eine Sympathie zuvor abgestritten hatten. Nach fast 30 Jahren fand im Jahre 2012 die letzte Party im „Jolly Jokers“ statt. Dann ging das Licht aus und die Türen schlossen sich. Pleite. Ein Geschäftsmodell aus den 1980er-Jahren, was einfach nicht mehr in den Zeitgeist der 2010er-Jahren passte. Zu spät wurde dies von den Betreibern erkannt. Die Konsequenz: Insolvenz.

Kaum jemand, der in den 1980er oder Mitte 1990er-Jahre zu dem Zeitpunkt zwischen 16 und 25 Jahren alt war, kam an diesem Schuppen vorbei. Der Einzugsbereich dieses Ladens zog sich aus der Stadt Braunschweig über viele Landkreise hinaus bis an die Leine. Das Konzept war genial: Eine alte Fabrik, mit wenig Geld umgebaut, gerade so, dass es für die Abnahme bei den Behörden reichte. Bei Reinigung und Komfort wurde gespart, wo es nur ging. Dafür gab es einen Eintrittspreis von 99 Pfennig. 90 % weniger als andere Großraumdiskotheken in dieser Zeit verlangten. In dem Musikbetrieb hineingebaut, ein Kino und Gastronomie auf Imbissniveau. Speis und Trank preislich außerhalb jeder Konkurrenz. Die Idee ging auf und schnell wurde das „Jolly Joker“ für die Besitzer zur reinsten Goldgrube. Auch der Gedankengang, alle Jugendgruppierungen der Zeit abzugreifen zu können, konnte umgesetzt werden. Am frühen Abend Independent Musik für die damaligen Subkulturen. Zur späteren Zeit normaler Discobetrieb für die proletarische Masse. So konnte auf allen Ebenen abkassiert werden. Für kleinere Konzerte, nicht kommerzieller Bands aus dem In- und Ausland, war das „Jolly Joker“ in Braunschweig auch immer eine gute Adresse. Ich kann mich an Auftritte von „Wall of Voodoo“ und den „Bollock Brothers“ erinnern. Anfang der 1990er-Jahren fanden die ersten Veränderungen in dem Schuppen statt. Aus dem Bezahl-Kino wurde ein öffentliches Lichtspielhaus, was zur Folge hatte, dass die extreme Fluktuation von Prolls und Angetrunkenen während der Vorstellung das Konsumieren eines Streifens in dem Filmpalast fast unmöglich machte. Es entstand ein „Wintergarten“, indem alternative Musik neben dem normalen Betrieb angeboten wurde. Aus der Pommesbude gegenüber dem Kino wurde ein weiterer kleiner Eventbereich. Mein letzter Besuch in dieser Großraumdiskothek war 1998. Zu dieser Zeit hätte ich nicht gedacht, dass der Laden noch weitere 12 Jahre in Betrieb sein würde. Schon damals hatte sich abgezeichnet, dass die Angebote nicht mehr ganz so gut ankamen.

Nach dem Aus im Jahre 2012 fand sich aber schnell ein neuer potenzieller Betreiber, der das „Jolly Joker“ so weit wieder in Schuss brachte, dass alle Auflagen für eine Neueröffnung von den Behörden genehmigt wurden. Fünf Jahre nach der Pleite fand 2017 die Eröffnung des alten „Jolly Jokers“ unter dem Namen „Jolly Time“ statt. Tatsächlich erinnert das Konzept und die Zielgruppenausrichtung im neuen Tanztempel nicht mehr an die alten Tage. Geblieben ist eigentlich nur noch die äußere Hülle der ehemaligen Fabrik. Statt viele Geschmäcker und Interessen abzudecken, ist der aktuelle Zeitgeist in den Laden eingezogen, der auch vorwiegend auf den Hauptstraßen von Berlin-Neukölln oder Berlin-Gesundbrunnen zu finden ist. Auftritte von „Zahni, Capital Bra, Summer Cem, oder Kay One“ statt „Wall of Voodoo“ oder den „Bollock Brothers“. Shisha Bar statt „Jolly Joker Kohlestäbchen“ (Pommes). 1980er und 1990er-Partys statt ein St. Patrick’s Day Fest. Um den Zeitgeist komplett abzudecken, fehlt eigentlich nur noch ein Wettbüro oder die bei einer gewissen Klientel so beliebten Spielautomaten. Ein 1-Euro Shop würde eventuell auch noch ganz gut in das Konzept passen. Das Urteil der Besucher über das „Ex-Jolly Joker“ fällt im Internet recht unterschiedlich aus. Die meisten Beschwerden gibt es bei der Organisation, den langen Wartezeiten an Theken und am Eingang. Darüber hinaus gibt es Klagen über die Belegschaft. Frauen bemängeln den hohen Migrantenanteil und fühlen sich teilweise von den neudeutschen fachkräften belästigt. Nun, nicht allen Aussagen kann Glauben geschenkt werden, aber die Einträge verschaffen jeden einen kleinen Überblick. Gegenüber dem alten „Jolly Joker“ ist das „Jolly Time“ heute anscheinend ein rein kommerzieller Club und Diskothekenbetrieb.

Im „Jolly Joker“war ich gerne. Jahrelang. In dieser Zeit hab ich mich (gefühlt) komplett durch den gesamten Laden gevögelt und hatte immer einen guten Abend. Es war für mich weniger eine Diskothek, sondern eher eine soziale Einrichtung, in der es möglich war, sich einfach für ein paar Stunden treffen, ohne unbedingt den Discothekenbetrieb mitmachen zu müssen. Die Mischung der Besucher war so kaum woanders zu finden. Es gab vor der Tür fast nie Abweisungen oder Selektionen, es sei denn, es hat sich jemand total daneben benommen. Egal welche Kleidung oder welches Aussehen. Kaum jemanden wurde der Zutritt verwehrt. Eine tolle Sache. Kein Grund, deswegen sentimental zu werden. Das „Jolly Joker“ hat Ende der 1990er-Jahre aufgehört zu existieren und war das letzte Jahrzehnt allenfalls eine Zombie-Location. Dem neuen Betreiber des „Jolly Time“ alles Gute für die Zukunft. Eher unwahrscheinlich, dass weitere 30 Jahre erreicht werden können.

Kommentare

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Hendrik Lorenz
2 tage vor
zitiere Mareike Kaa:
Ach ja, das Jolly. Ich bin etwas jünger, war aber auch 1998 das letzte Mal da – habe dann Abitur gemacht und war weg aus Gifhorn.
Unsere Gruppe spaltete sich immer auf in diejenigen, die auf der großen Tanzfläche bleiben wollten und die, die es in den Wintergarten und das Rolling Stone zog. Im letzteren ist es mir tatsächlich mal gelungen, mit einem Songwunsch beim Dj auf Gehör zu stoßen (Queens "Another One Bites the Dust") – da fühlte ich mich als uncoole Landpomeranze schon arg geschmeichelt. Ich erinnere mich auch daran, wie sie im Kino mal "Star Trek – The Motion Picture" gezeigt haben. Eine Freundin und ich verfolgten ganz gebannt, wie die Enterprise durch diesen grünen Waber flog.
Getrunken haben wir immer Amaretto-Apfelsaft.


Nun, Abitur 1998 ist dann wohl 10 Jahre jünger als ich. Damit hast du aber wirklich die "guten" Zeiten verpasst. In den 1990er Jahren war der Laden ja schon voll auf dem Abwärtstrend. Keine vernünftigen Veranstaltungen mehr, dafür immer mehr vollgeschissene und vollgekotzte Klos und Böden wo ich auch mit den schwersten Dr. Martens kleben geblieben bin. Die Neuauflage scheint sich Berichten zufolge voll an dem deutschen Zeitgeist angepasst zu haben. Shisha Bars, Spielautomaten, und eine große Tanzfläche wo hemmungslos Neudeutsche "Männer" grapschen können. Wie positiv sich doch das Land in kürzester Zeit verändern kann hätte ich mir 1988 im Jolly Joker auch noch nicht vorstellen können. Wenn der Laden irgendwann mal warmsaniert wird, würde ich mich nicht wundern. Auf Dauer hat auch das "neue" Shisha-Bar & Barberschop keine Zukunft wenn die Talahons nach und nach des Landes verwiesen werden oder im Knast landen.
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Mareike Kaa
4 tage vor
Ach ja, das Jolly. Ich bin etwas jünger, war aber auch 1998 das letzte Mal da – habe dann Abitur gemacht und war weg aus Gifhorn.
Unsere Gruppe spaltete sich immer auf in diejenigen, die auf der großen Tanzfläche bleiben wollten und die, die es in den Wintergarten und das Rolling Stone zog. Im letzteren ist es mir tatsächlich mal gelungen, mit einem Songwunsch beim Dj auf Gehör zu stoßen (Queens "Another One Bites the Dust") – da fühlte ich mich als uncoole Landpomeranze schon arg geschmeichelt. Ich erinnere mich auch daran, wie sie im Kino mal "Star Trek – The Motion Picture" gezeigt haben. Eine Freundin und ich verfolgten ganz gebannt, wie die Enterprise durch diesen grünen Waber flog.
Getrunken haben wir immer Amaretto-Apfelsaft.
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taktvoll69
6 monate vor
Eine treffende Homage ans Jolly, Danke dafür... Es war DER Treffpunkt der 80iger und 90iger in Braunschweig, hab meine Jugend dort verbracht und denke mit Wehmut daran zurück. Es war eine geile Zeit damals... irgendwie ein Mix aus Jugendzentrum und Disco... Heutzutage in gleicher Form undenkbar... Hab vor Jahren mal dem Nachfolger Jollytime einen Besuch abgestattet. Vom Geist der 80- / 90ies ist nicht mehr viel übrig geblieben...
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